Hannah Schassner | Theatermacherin, Frankfurt a. M.

Die Poesie der EInsamkeit

Das ist ja so eine Sache mit den Persönlichkeitsrechten in dieser Zeit. Das dachte ich mir auch, als ich diesen Mann auf seinem Balkon sitzen sah, emsig versuchend, sich eine Zigarette zu drehen. Ich überlegte kurz, ob es in Ordnung sei, ihn einfach ungefragt zu fotografieren, hörte mein autoritär erzogenes Hirn schon zur Moralpredigt ansetzen und entschied mich also, auf Nummer Sicher zu gehen. Von unten brüllte ich gegen den Lärm der Hauptverkehrsstraße: „Hey, wäre es ok, wenn ich ein Foto von dir mache, wie du da sitzt und rauchst?“ Und er so: „Ja, warum nicht!“ Datenschutz wäre in diesem Fall also geklärt, zumindest gab es einen mündlichen Vertrag. Datenschutz, das sei nur am Rande erwähnt, ist in diesem Fall wirklich ein ganz schön großer Strich durch die Rechnung der Poesie, denn die Poesie braucht den unverstellten Moment, nicht den Mann, der weiß, dass er jetzt gleich beim Rauchen fotografiert wird.

Ich schoss nur ein Foto. Denn kurz nachdem ich die vermeintlich richtige Position im Gewimmel der aus der Tram steigenden Menschen und dem Versuch, einen eineinhalb Meter großen Abstand zu ihnen zu wahren, gefunden hatte, kam (s)eine Frau auf den Balkon und sprengte mit ihrer reinen körperlichen Anwesenheit das Bild, das ich in meinem inneren Auge von dem Szenario gemacht hatte. Ein Mann in seiner puren Einsamkeit festgenagelt in einer Wand voller Rahmen, rauchend, während die Sonne auf ihn scheint und das Bild die Geräusche negiert, die die Straße produziert.Ist Einsamkeit poetisch?, frage ich mich, und stelle fest, wenn ich mir das Foto nochmal anschaue, dass er, wie er da hinter seiner Europaletten-Konstruktion sitzt und immer noch versucht, eine Zigarette zu drehen, gar nicht derjenige ist, der das Bild für mich poetisch macht. Es ist eher seine Anwesenheit, die die Abwesenheit der anderen erzeugt und poetisch macht. Ist dieser Gedanke plausibel? Fühlt man sich deswegen manchmal einsam, weil das eigene Dasein die Abwesenheit der anderen erst verdeutlicht? Sehe ich vor allem ihn auf dem Bild, weil alle anderen nicht anwesend sind? Erzeugt das Gefühl von Fülle erst das Wissen um die Leere? Gestern habe ich mich mit Lacans Spiegelstadium auseinandergesetzt. Ich finde die Idee, dass sich das Ich jedes einzelnen Menschen dann konstituiert, wenn er sich als Kinder zum ersten Mal als Ganzes im Spiegel, also in einem zweidimensionalen Bild sieht, wahnsinnig aufregend. Und vor allem das, was dann noch passiert: Sobald er sich selbst als Ich im Spiegel erkennt, erkennt er auch automatisch sein Nicht-Ich, das Andere – bei Lacan ist das die Mutter, die das Kind hält. Wir Menschen scheinen im Umkehrschluss also dieses Nicht-Ich als Abgrenzungsfläche im zweidimensionalen Bild des Spiegels zu brauchen, um selbstbewusstseinsbildend zu sagen: Ich bin ich, weil ich nicht das Nicht-Ich bin. Mir fällt es wie Schuppen von den Augen! Für mich scheint plötzlich so vieles erklär- und verstehbar, so vieles was Menschenn tun, ihre guten und ihre schlechten Eigenschaften....

Aber ich schweife ab. Wieso kam ich jetzt auf Lacan?

Weil die Fülle der körperlichen Anwesenheit des Mannes auf seinem Balkon das Wissen um die Leere der anderen Balkone erzeugt. Diese Balkone, sie sind Spiegel, sie sind Bühnen für das, was nicht stattfindet.

Links oben
gießt kein älterer Herr die Blumen und überlegt, ob der Himmel immer schon so blau war.

Rechts unten
lüftet keine Managerin, die heute mal im Jogginganzug geblieben ist, ihr Gehirn nach einer langen Telefonkonferenz mit der Firma.In der zweiten Reihe von oben in der Mitte
sucht kein Junge die Hutschnur, die ihm geplatzt ist.

Links unten
flieht kein Vater vor der Frage der Tochter, wie genau man nochmal einen Bruch ausrechnet.

In der zweiten Reihe von oben rechts
sitzt keine junger Mann und fragt sich bei einer Tasse Kaffee, ob der Job gesichert ist.

Rechts oben
telefoniert keine Frau gerade mit ihrem neuen Freund und bemerkt die Spucke in ihrem Mund, wenn sie daran denkt, ihn bald wieder küssen zu können.

Rechts in der dritten Reihe von oben
sonnt sich keine Frau mit einem Cocktail in der Hand und vermisst ihren Enkel.

Links in der zweiten Reihe von oben
verzweifelt gerade keine Mutter zwischen Homeschooling, Einkaufen, Freizeitbeschäftigung und der Frage, warum sie nochmal dachte, sie lebe in einer emanzipierten Beziehung.

Oben in der Mitte
sitzt gerade kein Politologie-Student und versucht seine Hausarbeit fertig zu schreiben, während die Bibliothek geschlossen ist.

Links in der dritten Reihe von oben
stirbt gerade keine Mutter von drei Kindern an Lungenversagen.

Unten in der Mitte
bastelt gerade kein Kleinkind an dem größten Bauklotzturm, den es je gebaut hat.

In der dritten Reihe von oben in der Mitte
dreht ein Mann hinter einer Europaletten-Konstruktion eine Zigarette.

Alles, was in diesem Bild nicht geschieht, scheint plötzlich realer. Es bleibt in Bewegung, während ich den Mann mit seinem Versuch, endlich diese verdammte Zigarette zu drehen, durch mein Foto zu einer Statue gemacht habe. Ich habe Mitleid mit ihm, weil er einfach nicht fertig werden darf. Ich habe ihn eingefroren, auf meinem Bild, in meinem zweidimensionalen Spiegel der Ichs und Nicht-Ichs – ich habe ihn für immer eingefroren als denjenigen, der mit seiner puren körperlichen Anwesenheit auf seinem Balkon die Abwesenheit der Anderen und die Fülle an Geschichten erzeugt, die um ihn herum nicht geschehen, aber geschehen könnten, während er es nicht schafft, sich eine Zigarette zu drehen.

Vielleicht hört er in einer seiner Geschichten ja mit dem Rauchen auf. Ist eh gesünder.