Hannah Schassner | Theatermacherin, Frankfurt a. M.

Autono(t)mie

Ich laufe die Allee entlang, unter Kastanienbäumen im Blütenmeer; die Sonne schimmert durch die Baumwipfel. Niemand ist da. Nur die Allee und ich und die Spuren derjenigen, die vor mir hier waren, im feuchten Matsch des Untergrunds, in dem der Blütenstaub Wurzeln schlägt. Nur die Allee und ich - und dieser Kreis, aus schwerem Eisen, purer Funktionalist in seinem eigentlichen Leben, der vor meinen Augen nun Akteure auf seiner Bühne erscheinen lässt:

Ich nenne diese Akteure Autos. Denn gemeinhin bezeichnet man diese Figuren, die hier im Rahmen hinter dem großen Kastanienbaum auf ihren großen Auftritt warten, als solche. Im Moment stehen sie noch brav an an der Seite. Sie sind noch der Chor, der nicht singt. Aber sie sind vorbereitet, ihre Stimmen sind geölt. Doch gerade jetzt warten sie und warten und warten – denn niemand ist da, um sie zu bedienen, nur diese einsam durch den glitzernden Morgen spazierende Frau mit ihrer Kamera, die keinen Schlüssel hat, um den Solisten zum Singen zu bringen oder den Chor zu dirigieren.

Aber vielleicht ist das alles für diese Figuren auch gar nicht so bedeutsam: Denn sie sind es gewohnt, zu warten auf die Entscheidung eines anderen. Geduldig lassen sie sich beherrschen, von uns Menschen, die wir sie zu steuern wissen und dabei Fehler machen, und fahren uns dorthin, wo wir meinen, hinzumüssen, hinzugehören, hinzuwollen, hinzusollen. Sie bewegen sich und sie bewegen uns auf den Straßen, die wir gebaut haben, um uns bewegen zu können, zu müssen, zu wollen, zu sollen.

Es gibt diese Figuren auf dieser Bühne in klein und groß, in neu und alt, in zurückhaltend und auffällig, in bunt und einfarbig, in aggressiv und zutraulich, in leicht zu führen und in autoritär, in schnell und langsam.

Mir fällt gerade ein Satz ein, den ich mal in einem Stück gehört habe: „Dein Wissen über Delphine verrät nichts über Delphine, sondern vielmehr etwas dich als Wissenden.“

Du musst dich bewegen, ich bin klein.
Du musst etwas bewegen, ich bin groß.
Du hast viel Geld, ich bin neu.
Du hast wenig Geld, ich bin alt.
Du bist zurückhaltend, ich bin devot.
Du bist auffällig, ich bin exaltiert.
Du bist bunt, ich falle gerne auf.
Du bist einfarbig, ich singe gerne im Chor.
Du bist aggressiv, ich bin laut.
Du bist zutraulich, ich bin auf Sicherheit bedacht.
Du bist leicht zu führen, ich bin praktisch veranlagt.
Du bist autoritär, ich liebe das Spiel mit der Gefahr.
Du bist schnell, ich habe es eilig.
Du bist langsam, ich habe Zeit.

Ich habe Zeit, wie ich hier einsam die Allee entlang spaziere und über mein Wissen über Delphine nachdenke, die wie Autos am Straßenrand nun wieder vor der Küste Italiens gesichtet wurden.

Wir lieben sie, oft mehr als unsere Partner. Wir benutzen sie, oft häufiger als unsere Staubsauger. Wir fühlen uns ihnen verbunden, oft stärker als unserem eigenen Spiegelbild. Wir bewegen sie, oft mehr, als uns selbst.

Und wenn ich nun weitergehe, und den Eisenring, der den Straßenrand zur Bühne machte, nun durch ein Blinzeln wieder zum Eisenring werden lasse, der dazu da ist, um den Glascontainer, auf dem er sitzt, mit großen Maschinen leichter leeren zu können, ist das alles nur noch ein Bild, auf dem Autos zu sehen sind, die keine Seele haben, kein Gehirn, kein Herz, keine Lunge und die auch nicht warten können. Die aber vielleicht immer noch etwas über denjenigen erzählen können, der später kommen wird, um sich damit zu bewegen.

Autono(t)mie.

Zwei Lichter flackern auf.
Es ist sind die Vorderlichter des

großen,
neuen,
zurückhaltenden,
einfarbig grauen,
aggressiven,
leicht zu führenden,
schnellen

Autos.

Irgendetwas muss heute also noch schnell irgendwohin bewegt werden, denke ich mir, während sein reicher, devoter, lauter, praktisch veranlagter Besitzer, der gerne im Chor singt und niemals Zeit hat, einsteigt, ausparkt und davon fährt.

Ich lese, was ich geschrieben habe und denke über den Mann nach, den ich gerade in sein Auto steigen sah. Ich lese es und kann mir kein Bild machen von ihm, obwohl ich sein Auto so genau betrachtet habe. Und ich denke: Vielleicht weiß ich ja doch nicht so viel über Delphine, wie ich zu wissen glaubte.

Ich drehe um und verfolge meine Spuren im Matsch des Untergrunds nach Hause. Für alle, die gleich hier lang spazieren und ihr Altglas entsorgen wollen, war ich auch nur eine von denjenigen, die vorher hier war und keine Ahnung von Delphinen hat.